Im Gegensatz zur "Transsibirischen" ist die "Baikal-Amur-Magistrale"
im Westen nur wenigen bekannt. Sie führt, wie ihr Name schon sagt,
von der nördlichen Spitze des Baikalsees nach Komsomolsk und über
Irkutsk bis nahe an die chinesische Grenze. Die Bahnlinie wurde in der
ehemaligen Sowjetunion zum Mythos. Sie sollte das zehn Millionen Quadratmeter
große Gebiet Ostsibiriens erschließen und somit die Ausbeutung
der dortigen Bodenschätze erleichtern sowie das Land zum Reichtum
führen. Seit 1931wurde ihr Bau jedoch immer wieder auf Eis gelegt.
Erst unter Breschnew wurde die BAM endgültig fertiggestellt.
Erstmals in ihrer Geschichte konnte die gesamte Eisenbahnlinie von einer ausländischen Gruppe bereist werden. Angela S. Wagner und Samuel J. Fleiner brachten ihre "Zukunftswerkstatt" zum dritten Mal ins Rollen. Diesmal lag der Schwerpunkt ihres Projektes auf der Tourismusentwicklung in der Baikal-Amur Region. Architekten, Ingenieure, Lehrer, Juristen, Wissenschaftler, Geographen, Wirtschaftsfachleute und Psychologen aus Deutschland und der Schweiz nahmen an der Reise teil.
Bereits vor dem eigentlichen Reisebeginn lernten
die Teilnehmer die Herzlichkeit ihrer russischen Gastfamilien kennen. Trotz
der Verschiedensprachigkeit gab es keine großen Verständigungsprobleme.
Denn die unbeschreibliche Gastfreundschaft der Russen kam auch ohne Worte
aus. Bei Kuchen, Wodka und Tee stellte sich schnell heraus, daß die
beiden Völker sich gar nicht so fremd sind. Der Schweizer Architekt
Hans-Peter Öchsli erlebte Sibirien ganz anders, als er erwartet hätte:
"Ich habe eigentlich gedacht, das seien ganz fremde Menschen. Ich habe
aber jetzt festgestellt, daß sie dieselbe Kultur haben wie wir. Daß
sie gleich aussehen. Und das ist so verblüffend - so weit weg von
Europa. Sie lesen dieselben Bücher und erzählen dieselben Witze."
Die Gastgeber waren durchweg Akademiker, die
in einem eigens für sie geschaffenen Vorort von Novosibirsk, in Akademgorodok,
leben. Akademgorodok ist das Hauptquartier der "Sibirischen Abteilung der
Akademie der Wissenschaften" der ehemaligen UDSSR. Dort befinden sich mehr
als hundert Forschungsinstitute, deren Zukunft ungewiß ist.
Ausgestattet mit ihrem Fachwissen, Informationsmaterial und Referaten zur Tourismussituation Ostsibiriens im Gepäck begann für die Teilnehmer am 02.08.93 um 22.00 Uhr in Novosibirsk die ungewöhnliche Reise auf der legendären Eisenbahnmagistrale. Die Experten erkannten sehr bald die Wichtigkeit ihrer Mission, denn entlang der BAM fehlte jegliche touristische Infranstruktur. Die chaotischen Buslinien - sofern überhaupt vorhanden - waren nicht zu durchschauen. Nebenbei verdienten sich Privatleute als Taxifahrer, die als solche für Fremde nicht zu erkennen waren, mit ihren eigenen PKW's etwas Geld. Eine Touristeninformation gab es weder am Bahnhof, noch rund um den dazugehörigen Parkplatz. "In beinahe jeder Stadt hat sich irgendjemand auf den Tourismus gestürzt und irgendein '"Office" gegründet. Etliche verteilen großspurig Visitenkarten ihrer "international" agierenden Repräsentanten mit Adressen in Westeuropa und den USA. "Ecotourism" und "Adventure travel" hat sich Rashit, unser Ansprechpartner von "Bamtour" am Baikalsee, auf die Karten geschrieben. Doch die Versprechen können nicht eingelöst werden. Es gibt kaum Unterkünfte. Eine ehemalige Regierungsdatscha kann lediglich elf Betten bieten. ... Vom idyllischen Garten ... bietet sich ein atemberaubendes Panorama über den Baikalsee. Nur: Wie sollen Reisende dieses Fleckchen Erde hoch oben im Wald finden?" wunderte sich die Journalistin Birgitt Rambalski aus Bremen.
Am Ende der fast dreiwöchigen Fahrt zeigten sich draußen die ersten Wachtürme. Millitär patrouillierte an den Brücken; unübersehbare Zeichen des jahrzehntelangen und noch immer andauernden Amurkonfliktes mit China. Die Landschaft wurde lieblicher, Sibirien lag hinter den Reisenden. Der Zug befand sich im Fernen Osten Rußlands, 13.000 Kilometer von Deutschland entfernt. Die mit durchschnittlich siebzig Stundenkilometern gemächlich rollende Bahn näherte sich dem Ziel. Am Bahnhof von Wladiwostok empfing der stellvertretende Bürgermeister die Reisegruppe mit Brot und Salz.
Hier finden Sie eine Liste sämtlicher Referenten und Themen der dritten rollenden Zukunftswerkstatt.