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1. Rollende Zukunftswerkstatt in Rußland

Teilnehmer aus sieben Nationen in einem ZugKim Chaos, Melbourne Australien bei den Heilbronner Kulturtagen

Am 27.12.91 fiel der Startschuß für ein ungewöhnliches internationales Projekt, das in Langenzell bei Heidelberg seinen Anfang hatte. Die Psychologin und Philosophin Sophia A. Wagner und der Konzeptkünstler und Landschaftsplaner Dipl. Ing. Samuel Fleiner, beide Gründer des Vereins "Wladiwostok e.V." brachten zwischen Weihnachten und Neujahr erstmals eine rollende Zukunftswerkstatt auf den Weg in die ehemalige Sowjetunion.
Sieben Nationen, insgesamt 50 Teilnehmer, bereisten zusammen in einem Sonderzug 10 Tage lang verschiedene russische Städte.
Novgorod, St. Petersburg, Wologda, Jaroslawl, Iwanowo, Wladimir, Susdal und Moskau gehören zum sog. "Goldenen Ring". Dieser Begriff steht für die architektonischen Perlen des alten Rußlands. Trotz ihrer historischen Stadtkerne und ihrer jahrhundertealten Geschichte sind diese Städte heute von den gleichen Strukturproblemen betroffen, die das ganze Land kennt.
Die Teilnehmer, Künstler, Wissenschaftler und Experten aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, hatten die Absicht, mit Vorträgen, Diskussionen und Veranstaltungen einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Entwicklung der Länder der ehemaligen Sowjetunion zu leisten. Dabei ging es nicht nur um rechtliche Fragen, wie z.B. der Umweltgesetzgebung und dem Verursacherprinzip, sondern auch um ganz praktische wie beispielsweise der Energieversorgung. Kaum ein Gebäude in Rußland besitzt regelbare Heizungen oder Wärmemengenzähler. Das bestehende Fernwärmenetz ist marode und weist besonders bei der Wärmedämmung zahlreiche Mängel auf. Auch die Bauten jüngeren Datums sind nur sehr schlecht wärmegedämmt.
  Als besonders problematisch wurde den Teilnehmern der Zukunftswerkstatt die psychische Situation in der russischen Bevölkerung geschildert.

Die großen Probleme bei der Versorgung, der Zusammenbruch des mächtigen Politapparates und eine in Rußland schon Tradition gewordene Fixierung der Bevölkerung auf große Autoritäten, nannten Psychologen und Psychiater aus Moskau und Iwanowo als Hauptursache der psychischen Belastungen der Menschen dort.
Das Problem ziehe sich durch sämtliche gesellschaftlichen Schichten und stelle ein großes Hindernis für die Entwicklung demokratischer Strukturen und Modelle echter Selbsthilfe dar.
Wer nicht auf sich selbst vertraut, sondern nach einer starken Führerfigur sucht, die "es schon richten wird" ist im höchstem Maße gefährdet, sich von zukünftigen möglichen Diktatoren beherrschen zu lassen. Die Kehrseite dieser Medaille sind außerdem Drogenmißbrauch und Alkoholismus.  Da viele Russen von dieser Problematik betroffen sind, müssen hier neue Therapiekonzepte erarbeitet und erprobt werden.

Die Rolle der Frau in der Russischen Gesellschaft, Jugendstrafrecht und Jugendarbeit, der Umgang mit historischer Bausubstanz, Wohnungsbau in Selbsthilfe, Biologischer Obstbau mit Sortenwahl und Nützlingsbegünstigung, Betriebs- und Praxisorganisation, das Wettbewerbswesen im Bereich der Planung und die kommunikativen Möglichkeiten von Computernetzwerken waren weitere wichtige Themen, die in Arbeitsgruppen und Gesprächsrunden besprochen wurden.

Große Versorgungsmängel gibt es in Russland auch bei Medikamenten. Manche Kliniken, die früher zentral versorgt wurden, bekommen nun gar nichts mehr oder werden nur gegen Devisen beliefert. Ärzte aus Speyer, Ludwigshafen, Karlsruhe, Ettlingen und Hockenheim halfen hier mit einer großzügigen Medikamentenspende im Wert von ca. 50.000 DM. Diese Medikamente wurden als humanitäre Hilfe Polykliniken in Iwanowo und Moskau übergeben. Als besonders wichtig bezeichneten es die Veranstalter, daß diese Präparate nicht auf dem Schwarzmarkt gelangen können. Einzige Gewähr bieten hier nur bereits bestehende persönliche Vertrauensverhältnisse zum dortigen leitenden Personal.

Mit bei der Reise dabei waren auch zahlreiche Künstler.

und zwei russische Liedermacher traten mehrfach in den besuchten Städten aber auch im Konferenzwagen und im Barwagen des Zuges auf. Selbst die mitreisende Moskauer Psychiaterin und die Übersetzerin für Russisch und Italienisch entpuppten sich während der Fahrt als echte Gesangstalente. Am Neujahrsabend gestalteten Sophia Wagner und Samuel Fleiner in einer Halle bei Wologda ein großes Deckenobjekt mit Tüchern. Titel der Installation: "Wenn die roten Fahnen gehn." Musik und Kabarett boten zusammen mit dem sehr reichhaltigen Kulturprogramm in den Haltestädten nicht nur einen Ausgleich zu den Fachgesprächen und politischen Diskussionen, sondern waren echte Eisbrecher. Zusammen mit den Inhalten der Veranstaltungen, den intensiven Kontakten und Freundschaften, die während dieser Fahrt entstanden sind, wurde die Reise zum Gesamtkunstwerk.

Einen etwas schalen Beigeschmack hinterließ bei den westlichen Teilnehmern die Bewirtschaftung der Bar im Sonderzug. Hier bildete sich die soziale Situation Europas im kleinen ab: Der, übrigens russische, Barkeeper weigerte sich hartnäckig den russischen Teilnehmern der Fahrt Getränke gegen Rubel auszuschenken. Er begründete dies mit der Tatsache, daß er selbst einheimische Getränke nur gegen Devisen einkaufen könne und sie deshalb nicht gegen Rubel abgeben wolle. Als einziger Ausweg aus dieser Zweiklassengesellschaft blieb den westlichen Teilnehmern nur, die russischen Mitreisenden entsprechend großzügig einzuladen oder die Bar zu meiden. Für die sehr gastfreundlichen Russen sicherlich eine Kränkung, die sie mit der Bemerkung wegsteckten, daß die Begegnungen, Kontakte und Bildungschancen dieser Reise, das mehr als wettmachen würden. Auch für sie habe sich diese Reise im höchsten Maße gelohnt.

Wer die Arbeit des gemeinnützigen "Wladiwostok e.V." durch seine Spende unterstützen möchte, kann dies über das Konto Nr. 36609 bei der Bezirkssparkasse Heidelberg BLZ 672 500 20 tun.
 



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