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1. Rollende
Zukunftswerkstatt
in Rußland
Teilnehmer aus sieben Nationen in einem Zug
Am 27.12.91 fiel der Startschuß für ein ungewöhnliches
internationales Projekt, das in Langenzell bei Heidelberg seinen Anfang
hatte. Die Psychologin und Philosophin Sophia A. Wagner und der Konzeptkünstler
und Landschaftsplaner Dipl. Ing. Samuel Fleiner, beide Gründer des
Vereins "Wladiwostok e.V." brachten zwischen Weihnachten und Neujahr erstmals
eine rollende Zukunftswerkstatt auf den Weg in die ehemalige Sowjetunion.
Sieben Nationen, insgesamt 50 Teilnehmer, bereisten zusammen in einem
Sonderzug 10 Tage lang verschiedene russische Städte.
Novgorod, St. Petersburg, Wologda, Jaroslawl, Iwanowo, Wladimir, Susdal
und Moskau gehören zum sog. "Goldenen Ring". Dieser Begriff steht
für die architektonischen Perlen des alten Rußlands. Trotz ihrer
historischen Stadtkerne und ihrer jahrhundertealten Geschichte sind diese
Städte heute von den gleichen Strukturproblemen betroffen, die das
ganze Land kennt.
Die Teilnehmer, Künstler, Wissenschaftler und Experten aus unterschiedlichen
Bereichen der Gesellschaft, hatten die Absicht, mit Vorträgen, Diskussionen
und Veranstaltungen einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Entwicklung
der Länder der ehemaligen Sowjetunion zu leisten.
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Aus Italien reisten unter der Leitung des Politologen Dr. Claudio Cesari
vier Referenten zu den Themen Alkoholismustherapie, Biolandwirtschaft und
Gartenbau, Genossenschaftswesen sowie zu Fragen der Gestaltung einer umwelt-
und sozialverträglichen Wirtschaftsordung an.
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Der Kehler Professor Roland Geitmann beschäftigte sich in seinen Vorträgen
ebenfalls vornehmlich mit diesem Thema. Fragen des Bodenrechts und der
Währungspolitik waren sein Anliegen.
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Auf eine besonders interessierte Zuhörerschaft stießen die mitreisenden
Pädagogen. Seit dem Verbot, kommunistische Ideologie an russischen
Schulen zu lehren, haben diese nun große Freiheiten bei der Gestaltung
ihrer Lehrpläne. Statt der kollektiven Erziehung steht nun der Schüler
selbst mit seinen individuellen Neigungen und Fähigkeiten im Vordergrund.
Die Vorträge zu den Themen Freinet-Pädagogik, Walldorf-Pädagogik
und Projektstudium boten daher reichlich Anregungen zur eigenen Gestaltung
des Unterrichts.
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Ein wichtiges Thema in Rußland ist derzeit die Umweltsituation. Zahlreiche
Industriestandorte und die sie umgebenden Gewässer sind mit Chemikalien
und Schwermetallen verseucht. Intensive Landwirtschaft verursachte durch
die Nitratbelastung des Grundwassers große Probleme. Die russischen
Städte ersticken fast ganzjährig unter einer schwer belasteten
Abgasglocke. Staub, Ruß und Schwefeldioxide führen besonders
bei Kindern zu Haut- und Atemwegserkrankungen. Mitreisende Fachleute konnten
hier wichtige Fragen erörtern, wie mit diesen Problemen umgegangen
werden kann.
Dabei ging es nicht nur um rechtliche Fragen, wie z.B. der Umweltgesetzgebung
und dem Verursacherprinzip, sondern auch um ganz praktische wie beispielsweise
der Energieversorgung. Kaum ein Gebäude in Rußland besitzt regelbare
Heizungen oder Wärmemengenzähler. Das bestehende Fernwärmenetz
ist marode und weist besonders bei der Wärmedämmung zahlreiche
Mängel auf. Auch die Bauten jüngeren Datums sind nur sehr schlecht
wärmegedämmt.
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Der Nürtinger Ingenieur Norbert Eisenberger konnte zu diesen Fragen
wichtiges Praxiswissen beisteuern. Als Fachmann für Solar- und Wärmetechnik
fand er in den von russischer Seite mitreisenden Architekten und Energieingenieuren
kompetente und interessierte Gesprächspartner.
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Mit großem Interesse wurden auch die Vorträge der Mitarbeiter
der Lörracher Firma Bohmin Solar gehört. Dipl. Ing. Michael Mitzel
und Dipl. Ing. Matthias Sodeik stellten ein auf dem Stirlingantrieb beruhendes
Konzept eines kleinen Hauskraftwerkes vor. Der Motor kann mit jedem Brennstoff,
auch mit Solarenergie betrieben werden. Das Aggregat arbeitet in Verbindung
mit einem thermischen Wasserstoffspeicher. Dieses Konzept eröffnet
völlig neue Perspektiven einer dezentralen Energieversorgung. Gefährliche
Kernkraftwerke werden dadurch in Zukunft überflüssig gemacht.
Diese Technologie kann auch bei uns große Fortschritte bei der Verbesserung
der Abgassituation erzielen.
Als besonders problematisch wurde den Teilnehmern der Zukunftswerkstatt
die psychische Situation in der russischen Bevölkerung geschildert.
Die großen Probleme bei der Versorgung, der Zusammenbruch des
mächtigen Politapparates und eine in Rußland schon Tradition
gewordene Fixierung der Bevölkerung auf große Autoritäten,
nannten Psychologen und Psychiater aus Moskau und Iwanowo als Hauptursache
der psychischen Belastungen der Menschen dort.
Das Problem ziehe sich durch sämtliche gesellschaftlichen Schichten
und stelle ein großes Hindernis für die Entwicklung demokratischer
Strukturen und Modelle echter Selbsthilfe dar.
Wer nicht auf sich selbst vertraut, sondern nach einer starken Führerfigur
sucht, die "es schon richten wird" ist im höchstem Maße gefährdet,
sich von zukünftigen möglichen Diktatoren beherrschen zu lassen.
Die Kehrseite dieser Medaille sind außerdem Drogenmißbrauch
und Alkoholismus. Da viele Russen von dieser Problematik betroffen
sind, müssen hier neue Therapiekonzepte erarbeitet und erprobt werden.
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Ein Ansatz, der auf der Winterreise von der Pädagogin Elisabeth Möller
aus Hannover vorgestellt wurde, ist das Theater nach Augusto Boal. Die
Methode, die viele Paralellen zum Psychodrama aufweist, ist in der Lage
autoritäre Fixierungen in Menschen aufzulösen. Gearbeitet werden
kann in Gruppen von bis zu fünfzig Menschen.
Die Rolle der Frau in der Russischen Gesellschaft, Jugendstrafrecht und
Jugendarbeit, der Umgang mit historischer Bausubstanz, Wohnungsbau in Selbsthilfe,
Biologischer Obstbau mit Sortenwahl und Nützlingsbegünstigung,
Betriebs- und Praxisorganisation, das Wettbewerbswesen im Bereich der Planung
und die kommunikativen Möglichkeiten von Computernetzwerken waren
weitere wichtige Themen, die in Arbeitsgruppen und Gesprächsrunden
besprochen wurden.
Große Versorgungsmängel gibt es in Russland auch bei Medikamenten.
Manche Kliniken, die früher zentral versorgt wurden, bekommen nun
gar nichts mehr oder werden nur gegen Devisen beliefert. Ärzte aus
Speyer, Ludwigshafen, Karlsruhe, Ettlingen und Hockenheim halfen hier mit
einer großzügigen Medikamentenspende im Wert von ca. 50.000
DM. Diese Medikamente wurden als humanitäre Hilfe Polykliniken in
Iwanowo und Moskau übergeben. Als besonders wichtig bezeichneten es
die Veranstalter, daß diese Präparate nicht auf dem Schwarzmarkt
gelangen können. Einzige Gewähr bieten hier nur bereits bestehende
persönliche Vertrauensverhältnisse zum dortigen leitenden Personal.
Mit bei der Reise dabei waren auch zahlreiche Künstler.
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Die Folkgruppe "Seidelbast" aus Hannover,
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Babsi Pfeifer, Referentin für biologischen Obstbau und eine sehr begabte
Hornspielerin aus Heilbronn,
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der Mannheimer Theatermacher und Pianist Karl Kraus,
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die Hannoveraner Kabarettistin "Lila Luder",
und zwei russische Liedermacher traten mehrfach in den besuchten Städten
aber auch im Konferenzwagen und im Barwagen des Zuges auf. Selbst die mitreisende
Moskauer Psychiaterin und die Übersetzerin für Russisch und Italienisch
entpuppten sich während der Fahrt als echte Gesangstalente. Am Neujahrsabend
gestalteten Sophia Wagner und Samuel Fleiner in einer Halle bei Wologda
ein großes Deckenobjekt mit Tüchern. Titel der Installation:
"Wenn die roten Fahnen gehn." Musik und Kabarett boten zusammen mit dem
sehr reichhaltigen Kulturprogramm in den Haltestädten nicht nur einen
Ausgleich zu den Fachgesprächen und politischen Diskussionen, sondern
waren echte Eisbrecher. Zusammen mit den Inhalten der Veranstaltungen,
den intensiven Kontakten und Freundschaften, die während dieser Fahrt
entstanden sind, wurde die Reise zum Gesamtkunstwerk.
Einen etwas schalen Beigeschmack hinterließ bei den westlichen
Teilnehmern die Bewirtschaftung der Bar im Sonderzug. Hier bildete sich
die soziale Situation Europas im kleinen ab: Der, übrigens russische,
Barkeeper weigerte sich hartnäckig den russischen Teilnehmern der
Fahrt Getränke gegen Rubel auszuschenken. Er begründete dies
mit der Tatsache, daß er selbst einheimische Getränke nur gegen
Devisen einkaufen könne und sie deshalb nicht gegen Rubel abgeben
wolle. Als einziger Ausweg aus dieser Zweiklassengesellschaft blieb den
westlichen Teilnehmern nur, die russischen Mitreisenden entsprechend großzügig
einzuladen oder die Bar zu meiden. Für die sehr gastfreundlichen Russen
sicherlich eine Kränkung, die sie mit der Bemerkung wegsteckten, daß
die Begegnungen, Kontakte und Bildungschancen dieser Reise, das mehr als
wettmachen würden. Auch für sie habe sich diese Reise im höchsten
Maße gelohnt.
Wer die Arbeit des gemeinnützigen "Wladiwostok e.V." durch seine
Spende unterstützen möchte, kann dies über das Konto Nr.
36609 bei der Bezirkssparkasse Heidelberg BLZ 672 500 20 tun.
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